Seiten

Donnerstag, 1. Juni 2017

Delia von der „Schwarzen Katze“




Delia sieht zufrieden aus. Sie steht oben am Eingang zur „Gato Prieto“, schaut auf die Strasse hinunter und hofft, dass sich endlich ein Gast in das neue Restaurant an der 13. Strasse, im Stadtteil Vedado, verirrt. Seit elf Uhr vormittags steht sie schon da und wird es bis zwei Uhr nachts tun. Viele Gäste gibt es nicht, ich bin eine der wenigen, die regelmässig die steilen Stufen hinauf zur gedeckten Terrasse steigt. 


Sie gewährt mir heute, meinem letzten Tag in Havanna, ein Interview. Ich möchte herausfinden, ob sie tatsächlich so zufrieden ist, wie sie aussieht, und warum. Wir kennen uns nun schon gut fünf Wochen und haben uns angefreundet. Für unser Gespräch kommt sie heute extra eine Stunde früher als sonst. Für die 14 Kilometer von ihrer Wohnung im Stadtteil Arroyo Naranjo, in der sie mit ihren Eltern, ihrem Mann und ihrem dreijährigen Sohn Elias lebt, bis zu ihrem Arbeitsort in Vedado fährt sie über eine Stunde im vollgepferchten Bus. Für den Heimweg frühmorgens benutzt sie hin und wieder ein Taxi, weil der Bus dann nicht mehr fährt, oder nur sehr sporadisch.

Der öffentliche Verkehr in Havanna reicht nicht aus für den enormen Transport-Bedarf der Zwei-Millionen-Stadt. Privatverkehr ist praktisch nicht vorhanden. Nach der Revolution 1959 war es den Kubanern nicht mehr gestattet, ein eigenes Auto zu kaufen. Deswegen sind immer noch viele Oldtimer unterwegs. Erst seit 2011 ist der Erwerb eines Gebrauchtwagens für Private erlaubt, seit 2014 auch der eines Neuwagens. Aber wie viele Kubaner können sich denn einen leisten, wenn ein Fahrzeug auf Kuba ein Vielfaches von dem kostet, was anderswo dafür bezahlt wird? Delia jedenfalls nicht.

Und doch: Delia ist zufrieden. Mit ihrem Einkommen als Kellnerin und dem ihres Mannes, der auf dem Bau arbeitet, können sie knapp die Lebenskosten einer durchschnittlichen kubanischen Familie bestreiten. Da hilft es auch, dass sie sich eine kleine Wohnung mit ihren Eltern teilt. Die Mutter ist als Sekretärin für den Direktor einer Poliklinik tätig, der Vater ist Bauarbeiter wie sein Schwiegersohn.
Der Durchschnittslohn in Kuba beträgt heute 824 Pesos (ca. 32 CHF). Das tönt nach sehr wenig, ist es auch. Niemand könnte davon leben, wenn nicht die Grundbedürfnisse stark subventioniert wären. Eine dreiköpfige Familie bezahlt monatlich für Gas, Strom, Wasser und Telefon rund 1.55 CHF (2011), die Staatsangestellten bezahlen keine Steuern, Bildung und Gesundheit sind gratis, was allerdings noch nichts über deren Qualität aussagt.

Im Zentrum der Subventionen steht die „Libreta“, in der die monatliche Ration von Grundnahrungsmitteln wie Reis, schwarze Bohnen, Eier, Hünerfleisch, Zucker, Kaffee, Salz und ein Pack Streichhölzer pro Person und Monat aufgeführt ist. Die Mengen reichen allerdings den meisten Kubanern nur bis Mitte des Monats. Hygieneprodukte und „Luxusgüter“ wie Butter, Käse, Wurst sind sehr teuer, auch im internationalen Vergleich, und müssen gegen Devisen (CUC – die konvertible Währung) gekauft werden.


Die subventionierten Lebensmittel kosten den Staat rund eine Milliarde Dollar jährlich: Eine Frau hält eine Libreta in Santiago de Cuba. (10. Juli 2013) Bild: AFP

Die Kubaner essen, aufgrund der Zusammensetzung der subventionierten Nahrungsmittel, sehr kohlenhydratlastige Kost. Wie sähe ich aus, wenn ich monatlich fast zwei Kilogramm Zucker, über zwei Kilo Reis und fast ebenso viel getrocknete, schwarze Bohnen verdrücken würde! Viele sind deshalb übergewichtig. Nicht so Delia.

Sie bezeichnet sich als Mulattin, hat eine milchkaffeebraune Haut, schneeweisse Zähne, dunkle Augen und schwarze Haare, welche sie zu einem Rossschwanz zusammengebunden trägt. Jedes Mal nach der Haarwäsche kommt das Bügeleisen zum Einsatz, denn von Natur aus sind ihre Haare kraus.
In der landesweiten Volkszählung von 2012 geben 61,4 Prozent der Kubaner an, weiss zu sein, 26,6 Prozent Mulatten und 9,3 Prozent schwarz. Wenn ich mich aber auf der Strasse umschaue, finde ich, der Anteil der Mulatten sei wesentlich höher. Da es sich beim Zensus um eine Selbsteinschätzung handelt, kann ich verstehen, dass sich einige ein bisschen weiss schwindeln, denn, entgegen der offiziellen Lesart, existiert in Kuba sehr wohl Rassismus zu Ungunsten der farbigen Bevölkerung.

Delia mit Elias
Delia scheint aber mit ihrer Herkunft zufrieden zu sein. Sie erzählt, nicht ohne Stolz, ihre Mutter sei sogar zur Hälfte chinesischer Abstammung. Ihrem Söhnchen sehe man das besser an als ihr. Als Beweis dient dieses Foto auf ihrem Uralt-Handy.

Der Knirps besucht tagsüber eine Kita in der Nähe der Wohnung. Am Morgen bringt ihn Delia hin, der Papa oder die Grossmutter holen ihn nachmittags wieder ab. Delia sieht ihn eigentlich nur an ihren freien Tagen, zwei oder dreimal die Woche. Da hat sie etwas Zeit, mit Elias zu spielen. Zudem bringt sie dann auch den Haushalt in Ordnung und kauft ein.

Einkaufen ist keine einfache Sache in Kuba, das habe auch ich mit meinem europäischen Geldbeutel erfahren. Wenn es nichts hat, hat’s nichts. No hay nada. Und das ist momentan wieder einmal der Fall. WC-Papier ist nirgends aufzutreiben, ebenso wenig wie Käse oder, gerade jetzt, Tomaten. Noch vor ein paar Tagen waren letztere auf dem Markt gegen Pesos günstig zu kaufen. Saftig und schmackhaft waren sie, an der Staude gereift. In den vergangenen fünf Wochen waren auch keine Kartoffeln aufzutreiben und plötzlich, vor ein paar Tagen, gab es sie plötzlich, allerdings nur über das „Libreta“. Für mich war da nichts zu holen. Vorgestern erschien Delia in der „Gato Prieto“ mit einem weissen Plastiksack. Sie hat mir fünf Kartoffeln aus ihrer Ration gebracht. Welche Freude!

Delia arbeitet seit der Eröffnung des „Gato Prieto“ im Restaurant. Das Team besteht aus dem Besitzer, der auch in der Küche steht, einem Hilfskoch, einem Barman, einer Frau für alles Mögliche und eben Delia, der gelernten Gastronomie-Fachfrau. 
Drei Jahre dauerte ihre Ausbildung und weil sie gute Abschlussnoten hatte, konnte sie sich für eine Zusatzausbildung anmelden. Sie entschied sich für die Hotellerie. Auf die Frage, warum sie nicht in einem Hotel arbeite, antwortet sie mit einem Schulterzucken, mehr ist ihr nicht zu entlocken. Ist es die Hautfarbe, hat sie kein Netzwerk, sind die Stellen zu dünn gesät? Manchmal werden die Stellen auch nach Parteizugehörigkeit vergeben, denn die meisten Hotels sind in staatlicher Hand.

Das "Gato Prieto"-Team mit Gast
Delia scheint jedoch mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden zu sein. Obwohl: mehr Gäste wünscht sie sich schon. Oft waren ich und mein Besuch alleine dort, zu den Spaghetti am Mittag und auch abends zum Schlummer-Mojito. Es könnte daran liegen, dass das Lokal auf der falschen Seite der Linea liegt, der Strasse, die das Quartier diagonal wie eine Hauptschlagader durchquert. Auf der andern Seite, wo sich die grossen Hotels befinden, füllen die Touristen die unzähligen „Paladares“, die privaten Restaurants, die in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Über die stark befahrene Strasse verirrt sich aber kaum jemand, weil es fast lebensgefährlich ist, sie zu überqueren. Auf dieser Seite ist es viel ruhiger, ein Wohngebiet eben. Obwohl die Preise in der „Gato Prieto“ niedrig sind, können sich die Bewohner der umliegenden Häuser höchstens einmal ein Süssgetränk oder ein Cocktail leisten.

Auch wenn Delia zufrieden zu sein scheint, hat sie ein paar bescheidene Wünsche für die Zukunft. Sie würde gerne mit ihrer kleinen Familie in eine eigene Wohnung ziehen, im selben Haus, in dem sie momentan wohnt. Dann könnte sie auch an ein zweites Kind denken, falls sie gleichzeitig etwas mehr verdienen würde.
Die Geburtenrate in Kuba ist eine der niedrigsten in Lateinamerika. 1,72 Kinder wurden 2015 pro Frau geboren. Gleichzeitig sind 19,3 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt, was eine Überalterung der Gesellschaft zur Folge hat. Deswegen greift der Staat nun ein. Die Gesetzesverordnung Nr. 339 „über die Mutterschaft der arbeitenden Frau“ besagt unter anderem, dass seit Dezember 2016 Frauen sowohl ihre Mutterschaftsleistungen als auch ihren Lohn erhalten, wenn sie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Inwieweit dies junge Paare ermutigt, ein zweites oder drittes Kind zu planen, sei dahingestellt. Eine Verbesserung der Wohnsituation würde wahrscheinlich mehr bringen.
Für Delia ist eine grössere Behausung jedenfalls ein wesentlicher Faktor in der Familienplanung. Momentan müsste sie allerdings für eine Wohnung in Vedado, die gut und gerne um die 150'000 CUC kostet, ungefähr 400 Jahre arbeiten.

Da möchte sie vorher doch lieber ihren kleinen Eilas fördern, bei dem sie ein Talent für Musik entdeckt hat. Sie sucht bereits jetzt einen privaten Lehrer, der den Buben musikalisch so weit fördern soll, dass er später von der Musik leben kann.
Delia in meinem Wohnzimmer

Delias Wünsche sind, gemessen an unserer westeuropäischen Anspruchshaltung, bescheiden. Sie ist mit der Situation in Kuba aufgewachsen und kennt ein anderes Leben höchstens aus den in Kuba so beliebten Soaps. Für sie ist das reine Fiktion. Aussagen über die politische und gesellschaftliche Situation im Land lässt sie sich nicht entlocken. Vorsichtsmassnahme, Gleichgültigkeit oder Gewohnheit? Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich ein bisschen von allem.
Sie konzentriert sich auf die täglichen Herausforderungen und ist damit, ja, eigentlich zufrieden.









Montag, 20. Februar 2017

Der Staat bin ich!



Wie die Weltgemeinschaft in den letzten Wochen erfahren hat, ist mit den Vereinigten Staaten in Zukunft nicht mehr zu spassen! Ich mache Amerika wieder gross! Vorbei die Zeiten der freien Einwanderung! Es reicht, dass unsere fantastischen Ahnen die Urbevölkerung eliminiert haben. Uns soll nicht das gleiche Schicksal ereilen. Diese Praxis der Einwanderung ist nun ein für ein und allemal vorbei!

Wir sind ab sofort die Urbevölkerung!
Wir weissen, alten, reichen Männer!

Deshalb habe ich als erste Amtshandlung den Bau dieser grossartigen Mauer gegen Mexiko verfügt. Wonderful! 











Und das Grossartigste: Diese Latinos werden selbst dafür zahlen!
Deshalb senke ich jetzt die Steuern für meinesgleichen, erhöhe den Rüstungs-Etat, damit die Waffen-Industrie aufblüht und schaffe diese idiotische Obamacare ab, damit wieder etwas Geld in die Staatskasse fliesst. Wie wunderbar logisch!

Aber nicht nur die Mexikaner sollen draussen bleiben, aus diesem meinem Land. Ab sofort werden auch keine Muslime Amerika betreten! Keine Muslime? Nicht ganz. Den exklusiven Kreis der Bürger jener Staaten, aus denen die Attentäter von 9/11 stammen, lassen wir rein. Mit denen machen wir gutes Business, Waffen, you know. Und die schicken uns ihr schwarzes Gold. Nicht, dass wir das noch nötig hätten, jetzt, wo wir so wunderbare Pipelines bauen, aber sicher ist sicher. Es ist einfach terrific, wenn Öl fliesst, viel Öl. Das bin ich meinem Kumpel Rex Tillerson, den Öl-Baronen und der gesamten elitären Nicht-Elite schuldig. Wir halten zusammen. Ja, Solidarität ist bei mir gross geschrieben.

À propos Kumpel: Der Abgang von Mike Flynn aus dem Kabinett ist f***ing nochmals eine Ungeheuerlichkeit. Nein, dass er gegen das Gesetz verstossen hat, kümmert mich nicht, sondern dass die zwielichtigen Typen aus der Medienbranche dahinter gekommen sind, das ist die Schande. Lügenpresse!!!

Immerhin ist mir meine Beraterin geblieben, die mit den nützlichen Wortkreationen. Eine flotte Biene, diese Kellyanne Conway, clever, wortgewandt und skrupellos. Wir haben so viel gemeinsam. Das gute Aussehen, die blonde Haarpracht und diesen untrüglichen Sinn fürs Unwesentliche. Ich muss mal überlegen, ob ich bei ihr nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden könnte. Ich habe ja schon im Wahlkampf gesagt, dass es in ganz Amerika keinen gibt, der die Frauen mehr respektiert als ich. Frauen sind absolut grossartig! If you know what I mean.

Der geniale Wahlkampf-Slogan, Make Amerika Great Again, kommt allerdings nicht von ihr. Den habe ich good old Ronny Reagan abgekupfert.
Er macht klar, dass mit Amerika die USA gemeint sind. Das lässt doch viel Spielraum für die Zukunft. Yea, damit lässt sich was anfangen! Amerika, China, Europa... 
Diesem lästigen Europa habe ich schon im Wahlkampf den Kampf angesagt. Alles Linke und Lügner! Es kommt jetzt auf die richtige Strategie an. Wenn Amerika gross sein soll, und das wird es, müssen alle anderen klein werden. Ich unterstütze die Europa-Gegner, die sind schon jetzt meine Fans. Solche wie Orban, Le Pen und die fantastische Teresa werden mich dabei unterstützen, Europa zu teilen nach dem Motto: „Teile und herrsche!“ Wenn es Europa nicht mehr gibt, bin ICH die einzige Grossmacht und das wird truly wonderful. Im alten Europa gab’s da mal einen, wie hiess er doch gleich, der sagte: l’etat, c’est moi. Das will ich auch.

Ich begreife überhaupt nicht, wozu der Kongress und der Senat gut sein sollen. Die behindern doch nur die schnelle Umsetzung meiner revolutionären Ideen. Bis jetzt habe ich meiner kurzen Amtszeit so viele wunderbare Dinge erreicht, mehr als Obama in seiner ganzen Karriere, und das komplett ohne Kongress. Der alte Louis drüben in Frankreich hat sich auch nicht mit solchen Nebensächlichkeiten abgegeben. Und falls es dann doch nicht klappt mit dem Regieren, kann ich immer noch sagen: nach mir die Sintflut. Auch so ein praktischer Spruch von einem Louis. Wirklich wonderful, diese Sprüche, und so wahr. Demokratie war gestern. Heute ist Trump!

Genug geplaudert, ich muss jetzt los, ein paar Dekrete unterschreiben. Du hörst von mir!












Oooops, sorry


Sonntag, 27. November 2016

Kant und Kaffee

Aus aktuellem Anlass habe ich ein Essay aus meiner Studienzeit vor zehn Jahren ausgegraben. Ich bin entsetzt, wie die Menschen sich heute um die Wahrheit foutieren und sich nicht einmal mehr die Mühe machen, die über die sozialen Medien zugespielten "Informationen" zu hinterfragen. Hier also meine Konserve:


Das richtige Mass an Information zu finden und die bewusste Auseinandersetzung  mit ihr ist Sache jedes einzelnen. Aber auch die Medien sind gefordert, im modernen Aufklärungsdiskurs ihre Rolle zu spielen.

Sonntagvormittag. Das Restaurant ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Gäste sitzen über ihre Zeitung gebeugt, nippen an ihrem Kaffee und informieren sich. Es raschelt, draussen die Herbstblätter, drinnen die Zeitungen. Nach einer Woche von „Kurzfutter-Journalismus“ besteht das Bedürfnis nach fundierter Information. Auch bei mir. Wir haben, den Gratiszeitungen und Informationssendungen sei’s gedankt, die ganze Woche über schon erfahren, was in der Welt vor sich geht. Heute, am Sonntag, nehme ich mir Zeit, den Hintergründen auf die Spur zu kommen.

Kant und Genossen
Vielen reicht das Infotainment nicht, welches uns viele Medien, allen voran die Gratiszeitungen, die wie Pilze aus dem Herbstboden spriessen, bescheren. Schliesslich ist es Bürgerpflicht, sich aus verschiedenen Quellen zu informieren, um sich eine umfassende Meinung zu bilden. Wir sind eine aufgeklärte Gesellschaft, nicht wahr?

Natürlich“, würde uns Auguste Compte (1798 - 1865) aus dem Jenseits zurufen, wenn er denn könnte. Und Hegel (1770 – 1831) würde ihm beipflichten. Beide sahen, laut Herbert Schnädelbach in seinem Essay vom 29.11.2003 in der NZZ, die Aufklärung als eine historisch begrenzte Epoche, auf die sie bereits anfangs des 19. Jahrhunderts zurückschauten. Ihr Aufklärungsverständnis bezog sich, wie Kant das bereits formulierte, „vorzüglich auf Religionssachen“. Mit der Französischen Revolution war für sie der Prozess mehrheitlich abgeschlossen.
 Wenn wir vom Aufklärungsverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts ausgehen, stimmt das weitgehend. Passen wir jedoch den Aufklärungsbegriff der heutigen Zeit an, muss er neu überdacht werden.
Bereits Compte musste zugestehen, dass er nach dem mystisch-religiösen und dem metaphysischen Stadium der Aufklärung nun das wissenschaftliche erlebte, der gesamte Aufklärungsprozess also doch noch nicht so ganz abgeschlossen war. Dieses wissenschaftliche Stadium sah er aber als Abschluss der Aufklärung an.
Die Wissenschaft wird jedoch, solange es die Menschheit gibt, immer nach neuen Erkenntnissen streben. Somit bleibt auch ein wissenschaftliches Aufklärungsbedürfnis erhalten.
Im Gegensatz zu Kants apolitischer Aufklärung muss heute genau das Gegenteil gefragt sein. Politische Mündigkeit ist die Voraussetzung für das Gelingen unserer direkten Demokratie.

Als Kant die Menschheit aufrief, sich aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien“, ging er davon aus, dass es nur etwas Mut brauche, sich seines Verstandes zu bedienen. Der Verstand ohne Wissen und Information ist aber gleichviel wert wie eine Säge ohne Holz. Das Werkzeug, soll es einen Zweck haben,  braucht Material zum Bearbeiten.

Die Kanzel als Meinungsplattform
Zur Zeit der Aufklärungsphilosophen im 18. Jahrhundert kam dem Klerus eine wichtige Rolle der Informations- und Meinungsverbreitung zu. In jenen Zeiten, als die Kirchen noch voll waren, konnte von der Kanzel herunter ein grosser Teil der Bevölkerung erreicht werden, damit die Menschen „…in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen sicher und gut bedienen …“.

Dieser Auftrag kommt heute den Medien zu. Es wäre vermessen, von Presse und Funk zu verlangen, die Aufklärungsarbeit für uns zu übernehmen. Dazu sind sie gar nicht in der Lage. Das müssen wir schon selber tun. Denn, und da möchte ich Kant und seinen Weggenossen entschieden beipflichten, wir müssen unsere Trägheit überwinden und uns aktiv um unsere Aufklärung bemühen. Nur als mündige Bürger, die sich mit den zentralen Themen unserer Zeit, von Politik über Wissenschaft bis hin zur Wirtschaft, befassen, können wir den Anforderungen unserer modernen Gesellschaft genügen.
Ohne die Auseinandersetzung mit Fragen der Gentechnologie, um ein Beispiel zu nennen, können wir ihre Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf die Ethik, Religion und Politik schlecht einschätzen. Und das müssen wir, wollen wir auch an der Urne ein qualifiziertes Wort mitreden.

Kaffee und Zeitung
Genau hier setzt die Aufgabe der Medien in der Aufklärungsfrage ein. Mit fundierten, mehrsystemrelevanten Beiträgen, Interviews und Kommentaren können sie uns bei der Erlangung politischer Mündigkeit unterstützen. Ohne diese Plattform sind wir nicht in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Als Informationsvermittler dienen sie heute der Meinungsbildung, wie dies im 18. Jahrhundert die Kirche tat. Aufklären können sie uns nicht. Das müssen die Menschen, damals wie heute, selber tun. Aber auf ihren Beitrag am Aufklärungsdiskurs, nämlich dem Informieren, können wir nicht verzichten.

Es genügt also nicht, wenn wir uns täglich mit Halbinformationen der Gratispresse oder den durchaus unterhaltenden Infotainment-Shows im Fernsehen überrieseln lassen. Nein, der sonntägliche Gang durch den Novemberregen zum Restaurant mit Kaffee- und Zeitungsangebot lohnt sich durchaus. Nicht nur zum eigenen Vergnügen, sondern auch zum Wohl der Gesellschaft, die ohne mündige, aufgeklärte Bürger ihrer demokratischen Aufgabe nicht gerecht werden kann.

Es lebe das Rauschen der Blätter, drinnen wie draussen!