Das richtige Mass an Information
zu finden und die bewusste Auseinandersetzung mit ihr ist Sache jedes einzelnen. Aber auch die
Medien sind gefordert, im modernen Aufklärungsdiskurs ihre Rolle zu spielen.
Sonntagvormittag. Das Restaurant ist bis auf den letzten Platz gefüllt.
Die Gäste sitzen über ihre Zeitung gebeugt, nippen an ihrem Kaffee und
informieren sich. Es raschelt, draussen die Herbstblätter, drinnen die Zeitungen.
Nach einer Woche von „Kurzfutter-Journalismus“ besteht das Bedürfnis nach
fundierter Information. Auch bei mir. Wir haben, den Gratiszeitungen und Informationssendungen
sei’s gedankt, die ganze Woche über schon erfahren, was in der Welt vor sich
geht. Heute, am Sonntag, nehme ich mir Zeit, den Hintergründen auf die Spur zu
kommen.
Kant und Genossen
Vielen reicht das Infotainment nicht, welches uns viele Medien, allen
voran die Gratiszeitungen, die wie Pilze aus dem Herbstboden spriessen,
bescheren. Schliesslich ist es Bürgerpflicht, sich aus verschiedenen Quellen zu
informieren, um sich eine umfassende Meinung zu bilden. Wir sind eine aufgeklärte
Gesellschaft, nicht wahr?
Natürlich“, würde uns Auguste
Compte (1798 - 1865) aus dem Jenseits zurufen, wenn er denn könnte. Und Hegel
(1770 – 1831) würde ihm beipflichten. Beide sahen, laut Herbert Schnädelbach in
seinem Essay vom 29.11.2003 in der NZZ, die Aufklärung als eine historisch
begrenzte Epoche, auf die sie bereits anfangs des 19. Jahrhunderts
zurückschauten. Ihr Aufklärungsverständnis bezog sich, wie Kant das bereits
formulierte, „vorzüglich auf Religionssachen“. Mit der Französischen Revolution
war für sie der Prozess mehrheitlich abgeschlossen.
Bereits Compte musste zugestehen, dass er nach dem mystisch-religiösen
und dem metaphysischen Stadium der Aufklärung nun das wissenschaftliche erlebte,
der gesamte Aufklärungsprozess also doch noch nicht so ganz abgeschlossen war. Dieses
wissenschaftliche Stadium sah er aber als Abschluss der Aufklärung an.
Die Wissenschaft wird jedoch, solange es die Menschheit gibt, immer nach
neuen Erkenntnissen streben. Somit bleibt auch ein wissenschaftliches
Aufklärungsbedürfnis erhalten.
Im Gegensatz zu Kants apolitischer Aufklärung muss heute genau das
Gegenteil gefragt sein. Politische Mündigkeit ist die Voraussetzung für das
Gelingen unserer direkten Demokratie.
Als Kant die Menschheit aufrief, sich aus ihrer „selbstverschuldeten
Unmündigkeit zu befreien“, ging er davon aus, dass es nur etwas Mut brauche,
sich seines Verstandes zu bedienen. Der Verstand ohne Wissen und Information
ist aber gleichviel wert wie eine Säge ohne Holz. Das Werkzeug, soll es einen
Zweck haben, braucht Material zum
Bearbeiten.
Die Kanzel als Meinungsplattform
Zur Zeit der Aufklärungsphilosophen im 18. Jahrhundert kam dem Klerus eine
wichtige Rolle der Informations- und Meinungsverbreitung zu. In jenen Zeiten,
als die Kirchen noch voll waren, konnte von der Kanzel herunter ein grosser
Teil der Bevölkerung erreicht werden, damit die Menschen „…in Religionsdingen
sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen sicher und gut bedienen
…“.
Dieser Auftrag kommt heute den Medien zu. Es wäre vermessen, von Presse
und Funk zu verlangen, die Aufklärungsarbeit für uns zu übernehmen. Dazu sind
sie gar nicht in der Lage. Das müssen wir schon selber tun. Denn, und da möchte
ich Kant und seinen Weggenossen entschieden beipflichten, wir müssen unsere
Trägheit überwinden und uns aktiv um unsere Aufklärung bemühen. Nur als mündige
Bürger, die sich mit den zentralen Themen unserer Zeit, von Politik über
Wissenschaft bis hin zur Wirtschaft, befassen, können wir den Anforderungen unserer
modernen Gesellschaft genügen.
Ohne die Auseinandersetzung mit Fragen der Gentechnologie, um ein
Beispiel zu nennen, können wir ihre Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf die
Ethik, Religion und Politik schlecht einschätzen. Und das müssen wir, wollen
wir auch an der Urne ein qualifiziertes Wort mitreden.
Kaffee und Zeitung
Genau hier setzt die Aufgabe der Medien in der Aufklärungsfrage ein. Mit
fundierten, mehrsystemrelevanten Beiträgen, Interviews und Kommentaren können
sie uns bei der Erlangung politischer Mündigkeit unterstützen. Ohne diese
Plattform sind wir nicht in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Als
Informationsvermittler dienen sie heute der Meinungsbildung, wie dies im 18.
Jahrhundert die Kirche tat. Aufklären können sie uns nicht. Das müssen die
Menschen, damals wie heute, selber tun. Aber auf ihren Beitrag am
Aufklärungsdiskurs, nämlich dem Informieren, können wir nicht verzichten.
Es genügt also nicht, wenn wir uns täglich mit Halbinformationen der
Gratispresse oder den durchaus unterhaltenden Infotainment-Shows im Fernsehen
überrieseln lassen. Nein, der sonntägliche Gang durch den Novemberregen zum
Restaurant mit Kaffee- und Zeitungsangebot lohnt sich durchaus. Nicht nur zum
eigenen Vergnügen, sondern auch zum Wohl der Gesellschaft, die ohne mündige,
aufgeklärte Bürger ihrer demokratischen Aufgabe nicht gerecht werden kann.
Es lebe das Rauschen der Blätter, drinnen wie draussen!
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